Forschungsprogramm

 

Der Traum gehört zu den anthropo­logischen Grund­phänomenen, die – wie Liebe, Sexualität oder Tod – die Men­schen aller Zeiten und Kulturen beschäftigt haben. Er konfrontiert uns mit einer Erlebnis­welt und einer Erlebens­weise, die auf ebenso offen­sichtliche wie rätsel­hafte Weise anders sind als die unseres wachen Lebens. Diese Fremd­heit der Traum­welt als Skandalon wie Faszinosum begründet das kulturelle Interesse am Traum. Die kulturelle ›Traum­arbeit‹ bemüht sich ent­weder um eine Neutrali­sierung oder zumindest um eine Reduktion der Traum-Alterität oder will diese zur Er­weiterung des all­täglichen Wirklichkeits­begriffs und Rationalitäts­verständnisses nutzen – zumeist wird beides, in unter­schiedlichen Akzentuierungen, mit­einander ver­bunden.

 

Diese kulturelle Aus­einander­setzung mit dem Traum hat eine Jahr­tausende lange Tradition. In heuristischer Sche­matisierung – die sich bereits einer disziplinären Per­spektivierung vom –Stand­punkt der Kunst- und Literatur­wissenschaft aus verdankt – lässt sich die ›Kultur­arbeit‹ am Traum folgendermaßen umreißen: Der wissens­poetologische Traum­diskurs wird von Theorien zu Ent­stehung, Typo­logisierung, Funktion und Deutung von Träumen aus den verschiedensten Disziplinen getragen (wie etwa Mantik, Metaphysik, Theologie, Philosophie, Anthropologie, Ethnologie, Geschichts­wissenschaft, Hirn­forschung, Kognitionstheorie, Physiologie, Psychologie, Psycho­analyse, Neuro­psychologie, Schlaf­forschung, Wahrnehmungs­theorie) und ist mit viel­fältigen kulturellen Praktiken verbunden (wie etwa dem Inkubations­traum, der Deutung des Traums durch Traum­bücher oder dem psycho­analytischen Gespräch, dem Führen von Traum­tage­büchern, der Technik des luziden Träumens). Künstlerische Themati­sierungen und Ge­staltungen des Traums – etwa in Literatur, Malerei, Fotografie und Film – wirken explizit oder implizit am Traum­diskurs mit, indem sie bestehende Traum­theorien wieder­geben, an­wenden, diskutieren, sub­vertieren oder modifizieren und ergänzen. Durch ihre fiktionalen Traum­entwürfe erweitern sie überdies den Raum des Traum­imaginären, konturieren, organisieren und limitieren ihn, wobei die Grenzen zwischen Ver­trautem und Fremdem stets neu verhandelt werden; außerdem integrieren sie den Traum in ihr je medien­spezifisches Repertoire von Genres und Verfahren. Zu fragen ist dabei auch nach einem möglichen spezifischen Traum­wissen der Literatur / Künste, seiner Modalität (propositional, exemplarisch, imaginär) sowie seiner Relation zum Traum­diskurs und nach wissens­poetologischen Wechsel­wirkungen zwischen Traum­darstellungen und Traum­diskurs.

 

 

Forschungsschwerpunkte

 

Das Interesse von Literatur und anderen Künsten am Traum beschränkt sich jedoch nicht auf diese Mit­arbeit am gesamt­kulturellen Projekt. Traum­dar­stellungen resultieren auch aus genuin ästhetischen Dynamiken der Künste. Daher wird etwa an etablierten Genres (wie der Traum­satire) oder an etablierten Traum­funktionalisie­rungen (wie dem prophetischen Traum als Strukturierungs­element) auch dann noch fest­gehalten, wenn deren Ver­wendung durch zeit­ge­nössische Traum­theorien nicht mehr gedeckt ist. Vor allem aber wirken die besonderen An­forderungen einer Dar­stel­lung von Träumen in den jeweiligen Medien als Innovations­generator. Im Extrem­fall führen sie sogar zur Aus­bildung neuer Darstellungs­verfahren des Imaginären, die sich von eindeutigen Träumen ablösen. Schließlich ergibt sich auch eine Eigendynamik intermedialer Wechsel­wirkungen. So greifen etwa Winsor McCays Comic Dream of the Rarebit Fiend (1904) und Edwin S. Porters Stummfilm-Adaption (USA 1906) gleichermaßen auf die in der Malerei bis weit ins 19. Jahrhundert gängige Konvention zurück, zur Markierung von Traum­szenen den Schläfer in der unteren Bild­hälfte zu zeigen. Für Franz Kafkas traumhaft­bizarres Erzählen hat man eine Orientierung an der Ästhetik des Stumm­films nachgewiesen. Da der Traum als zugleich trans­disziplinäres und trans­mediales Phänomen ein zu umfangreiches Forschungs­feld darstellt, um selbst im Rahmen eines aus­gedehnten und inter­disziplinären Forschungs­projektes umfassend bearbeitet werden zu können, werden für das Graduierten­kolleg folgende Kristallisations­punkte gesetzt:

 

  • Medial liegt der Fokus auf ästhetischen und fiktionalen Darstellungsweisen von Traumerleben. Von der Literatur ausgehend werden Filme und bildkünstlerische Arbeiten, fallweise auch Comics/Graphic Novels, Fotografie und Musik einbezogen.
  • Geographisch wird eine Begrenzung auf den europäischen Kulturraum mit besonderem Akzent auf deutschsprachigen, englischen, romanischen und slawischen Kulturen vorgenommen
  • Historisch gilt es, die nach-antike Zeit – schwerpunktmäßig ab dem Mittelalter – zu untersuchen, wobei Traditionsprägungen aus Antike, Bibel etc. mit ihrer (teils erstaunlichen) longue durée zu berücksichtigen sind (Traumtheorie und Traumdichtung der Antike sind bereits gut erforscht)
  • Methodisch und disziplinär ist das Graduiertenkolleg kulturwissenschaftlich und wissenspoetisch ausgerichtet. Sein Forschungsgegenstand ist der Traum als Kulturphänomen und damit ein Produkt kultureller Arbeit und konzeptueller wie ästhetischer Konstruktionen. Indem der Traum als kulturelles Konstrukt verstanden wird, geht das Graduiertenkolleg von keiner bestimmten Traumtheorie aus. Sämtliche Traumtheorien werden vielmehr als Teil des Traumdiskurses verstanden und gelten gleichermaßen als Wissensobjekte. Dies schließt die Mitwirkung von VertreterInnen der Disziplinen aus, die den Traum als direkten Erkenntnisgegenstand behandeln (wie etwa Psychologie, Neurophysiologie, Kognitionswissenschaft oder Schlafforschung).

 

 

Forschungsziel

 

Das Forschungs­ziel des Kollegs ist eine Wissens- und Kultur­geschichte von Traum­darstellungen in unter­schiedlichen Medien (Literatur, Film, bildende Kunst, ggf. Musik), verbunden mit einer systematischen, inter­medialen Ästhetik und Poetik des Traums in den europäischen Kulturen der Nach-Antike. Der besondere Akzent liegt auf der literarischen Arbeit am Traum und deren Aus­wirkungen auf das literarische System. Geleitet durch die gemeinsame Forschungs­reflexion im Kolleg über Traum(erleben) und dessen individuelle und kulturelle Ver­mittlung soll der Mehr­wert der einzelnen Doktor­arbeiten, Vortrags­reihen und Tagungen über den Status singulärer Fallstudien hinausgehen. Eine inhalt­liche Synthese wird in den vier anvisierten Work­shops erarbeitet, in denen Antrag­stellerInnen und Assoziierte unter Beteiligung hinzugeladener ExpertInnen eigene Textbeiträge zum Forschungsfeld liefern werden. Kritisch reflektiert, nachbearbeitet und systematisch zusammen­geführt werden diese in gemeinsamen Diskussionen, wobei jeweils zwei Verantwortliche für die kulturelle Perspektive (Kulturgeschichte: Engel; ›Einzelwerk‹: Stahl) und die mediale Perspektive (Inter-/Trans­medialität: Kreuzer; ›Einzelwerk‹ Solte-Gresser) vorgesehen sind. Als Ergebnis ist neben dem gemeinsam erstellten Traum-Wiki eine Kolleg-Publikation zu ›Europäischen Traumkulturen‹ geplant. Diese wird die Forschungs­leistung dokumentieren und als über­greifende und ver­bindende Gesamt­struktur für die Einzel­forschungsansätze dienen. Insgesamt soll und kann keine vollständige Kultur- und Kunst­geschichte des Traums angestrebt werden. Es gilt daher, folgende Aspekte zu fokussieren:

  • wissensgeschichtlich repräsentative Texte des Traumdiskurses und ästhetische Traumdarstellungen, die Spezifika einer Epoche, eines Kulturraums oder eines Mediums erhellen und an denen historische, mediale und nationalphilologische Merkmale der Traumdarstellung aufgezeigt werden können
  • innovative Texte des Traumdiskurses und ästhetische Traumdarstellungen, die Umbrüche innerhalb der Kunst- und Kulturgeschichte des Traums markieren
  • exemplarische Studien zum Verhältnis zwischen Traumdiskurs und künstlerischer Traumdarstellung, die unterschiedliche Modi ihrer Relationierung untersuchen (Parallelismus, Antagonismus, eigenständige Innovationen im Bereich der künstlerischen Traumdarstellungen)
  • exemplarische komparatistische Untersuchungen, die Synchronizitäten und Asynchronizitäten zwischen Nationalliteraturen und Kulturraum-Konstellationen überprüfen und damit auch eine kritische Überprüfung bestehender Epochenkonstruktionen ermöglichen
  • Studien zu einzelnen Traum-Genres und zu den Relationen und Interaktionen zwischen einer Literaturgeschichte des Traums und der Geschichte der Traumdarstellung in anderen Medien wie etwa Film und bildende Künste oder auch Fotografie, Oper, Lied, Graphic Novel, um parallele wie gegenläufige Entwicklungstendenzen, gemeinsame Abgrenzungsbewegungen und vergleichbare formale Merkmale herauszuarbeiten.

 

Im Methodo­logischen erwarten wir Innovationen in den Bereichen der systematischen Kontextualisierung und der Re­konstruktion von Wissens­formationen, der literatur­geschichtlichen und inter­medialen Komparatistik, der Systematisierung nicht-realistischer literarischer und künstlerischer Verfahren und Semiotisierungs­techniken sowie der Spezifizierung literarischen, filmischen und künstlerischen ›Wissens‹.

 

Aktuelle Forschungsbibliographie

 

 

Verortung der Mitglieder des Graduiertenkollegs »Europäische Traumkulturen« im Forschungsprogramm der 1. Förderphase

 

 

 

Forschungsprogramm

 

Das dauerhafte kulturelle Interesse am Traum liegt in seiner faszinierenden Alterität begründet. Entsprechend breit ist das Spektrum der kulturellen Auseinandersetzungen mit Träumen: Es reicht von Versuchen der Neutralisierung – oder zumindest Reduktion – der Fremdheit des Traums auf der einen bis zur Nutzung seines kreativen Potenzials für die Erweiterung des alltäglichen Wirklichkeitsbegriffs und Rationalitätsverständnisses auf der anderen Seite. Oftmals wird auch beides, in unterschiedlichen Akzentuierungen, miteinander verbunden.

 

Die kulturelle ›Traumarbeit‹ hat zudem eine Jahrtausende lange Tradition. In heuristischer Schematisierung, die sich bereits einer Perspektivierung vom Standpunkt der Kunst- und Literaturwissenschaft aus verdankt und daher ästhetische Traumdarstellungen ins Zentrum des Forschungsinteresses rückt, lässt sie sich folgendermaßen umreißen: Traumkulturen sind zum einen durch wissenspoetologische Traumdiskurse geprägt. Sie werden von Theorien zu Entstehung, Typologisierung, Funktion und Deutung von Träumen aus den verschiedensten Disziplinen getragen. Hierzu zählen unter anderem Mantik, Metaphysik, Theologie, Philosophie, Anthropologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Hirnforschung, Kognitionstheorie, Physiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Neuropsychologie, Wahrnehmungstheorie und Schlafforschung. Diese wiederum sind mit vielfältigen kulturellen Praktiken verbunden, etwa dem Führen von Traumtagebüchern oder der Technik des luziden Träumens, dem herbeigeführten Inkubationstraum, der Deutung des Traums durch Traumbücher oder das psychoanalytische Gespräch.

 

Zum anderen sind künstlerische Thematisierungen, Darstellungen und Gestaltungen des Traums – z.B. in Literatur, Malerei, Theater, Musik und Film – anzuführen: Diese wirken explizit oder implizit am Traumdiskurs mit, indem sie bestehende Traumtheorien wiedergeben, anwenden, diskutieren, modifizieren, ergänzen, präfigurieren, in Frage stellen oder unterlaufen. Durch ihre fiktionalen Traumentwürfe erweitern sie den Raum des Traumimaginären auf entscheidende Weise. Sie konturieren, organisieren und befragen ihn, indem die Grenzen zwischen Vertrautem und Fremdem stets neu verhandelt werden. Außerdem integrieren sie den Traum in ihr je medienspezifisches Repertoire von Genres und Verfahren. Damit ergibt sich ein spezifisches Traumwissen der Literatur und anderer Künste, das in einem ebenso produktiven wie ambivalenten Verhältnis zu wissenschaftlichen Traumkonzepten steht. Wissenspoetische Interferenzen zwischen ästhetischen Traumdarstellungen und Traumdiskursen bilden also einen entscheidenden Knotenpunkt in der Erforschung europäischer Traumkulturen und bergen ein erhebliches innovatives Potenzial.

 

Das Interesse von Literatur und anderen Künsten am Traum beschränkt sich jedoch nicht auf diese Beiträge zu einem gesamtkulturellen Projekt. Traumdarstellungen befriedigen auch Eigenbedürfnisse des Systems Kunst. Daher wird beispielsweise an konventionellen Genres (wie der Traumsatire) oder an etablierten Traumfunktionalisierungen (wie dem prophetischen Traum als Strukturierungselement) auch dann noch festgehalten, wenn deren Verwendung durch zeitgenössische Traumtheorien nicht mehr gedeckt ist. Vor allem aber wirken die besonderen Anforderungen einer Darstellung von Träumen in den jeweiligen Textsorten und Medien als Innovationsgeneratoren. In vielen Fällen führen sie sogar zur Ausbildung neuer Verfahren des Imaginären, die sich von der Traumdarstellung ablösen. Schließlich ergibt sich über die grundsätzliche transmediale Dimension des Traums hinaus auch eine ästhetische Eigendynamik, die aus intermedialen Wechselwirkungen entsteht, etwa wenn Comics, Computerspiele und Filme auf ikonografische Verfahren aus der Malerei zurückgreifen oder die moderne Oper an dramatische Traumspiele und musikalische Traumcodierungen früherer Jahrhunderte anknüpft.

 

Zentrum, Ausgangspunkt und Fokus sämtlicher Forschungsaktivitäten im Graduiertenkolleg bilden auf dieser Grundlage ästhetische Traumdarstellungen als Einzelwerke. Aus der kulturellen und der medialen Dimension ästhetischer Traumdarstellungen und ihren komplexen Verhältnissen untereinander ergeben sich durch die kulturwissenschaftliche und die medienästhetische Perspektive zwei Forschungsschwerpunkte mit jeweils drei Teilbereichen, innerhalb derer diese Werke untersucht werden können (siehe Abbildung). Unter die kulturwissenschaftliche Perspektive werden kulturgeschichtliche Aspekte und Kontexte der Einzelwerke gefasst, das Verhältnis ästhetischer, vorrangig fiktionaler Traumgestaltung zu faktualen Darstellungen von Träumen in Notaten, Protokollen und anderen Aufzeichnungsformen sowie deren Beziehungen zu wissensgeschichtlichen bzw. wissenspoetologischen Traumdiskursen. In medienästhetischer Hinsicht wird vom Einzelwerk in seiner medialen – sprachlichen, bildlichen, lautlichen etc. – Gestaltung ausgegangen; diese mediale Konstruktion der Traumdarstellung kann in eine medienvergleichende Untersuchung münden und/oder in transmedialer Dimension erforscht werden.

 

Den gemeinsamen Forschungsgegenstand des Graduiertenkollegs bildet also der Traum als Kulturphänomen: Er ist ein Produkt kultureller Arbeit und konzeptueller wie ästhetischer Konstruktionen. Indem Träume als kulturelle Konstrukte verstanden werden, nimmt das Graduiertenkolleg die Vielfalt an Traum¬theorien in den Blick, die als Wissensobjekte in den Traumdiskurs hineinwirken. Ziel der gemeinsamen ‚Traumarbeit‘ der Forschenden ist damit die möglichst systematische, großräumige Erschließung der Geschichte, Ästhetik, Poetik und Medialität ästhetischer Traumdarstellungen.

 

 

Forschungsschwerpunkte

 

Der Akzent lag in der ersten Förderphase auf der ästhetischen Arbeit am Traum und deren Auswirkungen auf das System Literatur/Kunst. Diese Fokussierung hat weitere Forschungsdesiderate offengelegt. In den Jahren 2019 bis 2024 wird das Forschungsziel der Promovierenden, PostdoktorandInnen und ProfessorInnen des Graduiertenkollegs daher ein doppeltes sein: Zum einen geht es um die Fortsetzung der Arbeit an einer Wissenspoetik des Traums als Wissens- und Kulturgeschichte ästhetischer Traumdarstellungen (A). Zum anderen wird eine grundlegend neue Sicht auf das Forschungsfeld eröffnet, die wir mit dem innovativen Begriff der Erfahrungspoetik des Traums und traumverwandter Phänomene fassen (B).

 

 

A Fortsetzung der Arbeit an einer Wissenspoetik ästhetischer Traumdarstellungen: Desiderate

 

Fortgeführt werden soll die ausgesprochen produktiv verlaufende kultur- und wissensgeschichtliche Erforschung des Traums in unterschiedlichen Medien, die bereits von Anfang an auf eine neunjährige interdisziplinäre und internationale Forschungsaktivität hin angelegt war. Angestrebt wird eine systematische, intermedial und transmedial ausgerichtete Beschreibung der Ästhetik und Poetik des Traums in den europäischen Kulturen der Nach-Antike. Eine solche Weiterführung der gemeinsamen Arbeit ist vor allem auf die Schließung von nach wie vor bestehenden oder inzwischen deutlicher hervorgetretenen Forschungslücken ausgerichtet.

 

Hier sind die folgenden Desiderate (Grafik A1–A4) zu nennen:

 

A1 Medienästhetische Perspektive

 

A2 Gattungspoetische Perspektive

 

A3 Kulturhistorische Perspektive

 

A4 Kulturraumspezifische Perspektive

 

 

B Erweitertes Forschungsprogramm: Erfahrungspoetik des Traums und angrenzender Phänomene

 

Mit dem theoretischen Rahmen einer allgemeinen Wissenspoetik (Barck 2005, Klausnitzer 2008, Köppe 2011, Vogl 1999) wurde im GRK bislang in erster Linie ein wissenschaftliches Wissen betont, das sich auf rational-kognitive Auseinandersetzungen (Albrecht 2011, Pethes 2013) mit dem Phänomen Traum stützt, wie es in philosophischen, theologischen, psychologischen, anthropologischen, ethnologischen und geschichtswissenschaftlichen Traumdiskursen im Vordergrund steht (Barboza 2017, Engel 2018b, 2017a, 2016 und 2015b). Auf diese Weise konnten die vielfältigen Verflechtungen zwischen Traum-Ästhetik und Traum-Wissenschaften herausgearbeitet werden, die sich als wichtige interdisziplinäre Knotenpunkte europäischer Traumkulturen erwiesen haben (Dieterle/Engel 2018, Oster/Reinstädler 2017, Schneider/Solte-Gresser 2018, Solte-Gresser 2019e). Dies bedeutet folglich, dass innerhalb der ersten Förderphase bestimmte traumrelevante Aspekte weniger im Zentrum standen. Das Forschungs¬programm der beantragten zweiten Förderphase sieht deshalb vor, sich auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse mit einem Bereich zu befassen, den wir, in Analogie zur Wissenspoetik des Traums, Erfahrungspoetik des Traums nennen.

 

Der zu schärfende, bislang nur gelegentlich und dabei unsystematisch verwendete Begriff der Erfahrungspoetik (Nautz/Vahrenkamp 1996), der u.a. auch die Differenz zu soziologisch-empirisch bzw. pädagogisch konzipiertem Erfahrungswissen (Böhle 2003, Fry 2000) markiert, öffnet die Perspektive auf ein wenig beforschtes, zugleich aber sehr wesentliches Themenfeld: Es geht um Erfahrung als elementares Erleben in seiner körperlich-sinnlichen und materiellen Dimension (Specht 2017) und die Formen ihrer Verknüpfung mit dem Traum und traumhaften Phänomenen sowie deren künstlerischer Darstellung (Borsò 2002 und 2001, Lachmann 2017, 2014 und 2002, Leuschner 2018, Rheinberger 1992, Schmitz-Emans 2013, Solte-Gresser 2019c, Spiller 2016a–b, Strässle/Torra-Mattenklott 2005).

 

Ausgehend von wissenspoetischen Ansätzen (Borgards/Neumeyer/Pethes/Wübben 2013, Vogl 1999) wollen wir damit an die in jüngster Zeit dynamisch verlaufenden Diskussionen in den Kulturwissenschaften anschließen. In Anknüpfung an die kulturpoetischen Überlegungen Manfred Engels (Engel 2017a, 2010 und 2001b) wird für die zweite Förderphase des Graduiertenkollegs ein ›weicher‹ Wissensbegriff in den Fokus gerückt, den auf ähnliche Weise auch Joseph Vogl und Roland Borgards wissenspoetologisch fruchtbar machen (Borgards/Pethes/Wübben 2013, Vogl 2011 und 1999). Ein solches nicht-propositionales Wissen bezeichnet Ottmar Ette als ein in der Literatur gespeichertes und bei der Lektüre zutage tretendes »Lebenswissen« (Ette 2012 und 2010); von Vittoria Borsò wird es – u.a. im Rahmen einer biopolitischen Reflexion aus der Perspektive Agambens – ein »Wissen für das Leben« (Borsò 2014 und 2010) genannt; Christiane Solte-Gresser differenziert verschiedene Praktiken der ästhetischen Wissensgenerierung, mittels derer Literatur Erfahrung speichern, inszenieren und vermitteln kann, aus (Solte-Gresser 2018a).

 

Auch wenn die einzelnen Konzepte durchaus unterschiedliche Aspekte des Problemfeldes betonen, so schreiben sie doch Literatur und anderen ästhetischen Artefakten ein vergleichbares Set an Eigenheiten zu, die an der spezifisch ästhetischen Produktion von Wissen beteiligt sind. Zu untersuchen wären also die Inszenierungsformen von gelebtem Erfahrungswissen, welche das Subjektive, Individuelle und Konkrete unterstreichen, Phänomene wie Immersion und Rezentrierung maßgeblich befördern (konsequent auf den Traum bezogen: Kreuzer 2014b) und als nicht-diskursive Praktiken an die körperliche, sinnliche und affektive Wahrnehmung des Individuums gekoppelt sind (Solte-Gresser 2019a, 2019c–d, Specht 2017). Über den Traum werden somit vielfache Aspekte des Nicht-Wissens (Bies/Gamper 2012) vor Augen geführt, die sich auch als ein Aufbegehren gegen die Dominanz der Hermeneutik verstehen lassen und deren kulturkritische Perspektive sich oftmals gegen ein vom Erklärungszwang geprägtes nachaufklärerisches westliches Denken richtet. In der wissenschaftlichen Erforschung der Europäischen Traumkulturen geraten damit neue Felder in den Blick. Naheliegende Beispiele sind das Verhältnis von subjektiver oder kollektiver bzw. geschichtlicher Erfahrung (Migration, Krieg, Trauma) und künstlerischen Traumdarstellungen oder die Wechselwirkungen zwischen individuel¬len und gesellschaftlichen Erinnerungspraktiken und ästhetischen Traumartefakten (Assmann 1999, Kristeva 2001, Kühner 2008, Spiller 2016b).

 

Was den Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwärtigkeit bzw. die Unmittelbarkeit von Erfahrung betrifft, so gilt es hinsichtlich der künftigen Forschungsschwerpunkte jedoch zu betonen: Während Erfahrung gemeinhin als etwas Vorgängiges aufgefasst wird, das dann im Traum wiederholt und als Traum in der Literatur wieder vergegenwärtigt oder neu erlebbar gemacht werden kann (Höfer 2019), wird es im Kolleg zusätzlich darum gehen, den Traum selbst als Ort der Generierung von Erfahrung in den Fokus zu rücken. In Bezug auf das grundsätzliche Verhältnis von Traumwissen und Traumerfahrung ist festzuhalten, dass dieses nicht als simple Opposition aufgefasst und der Traum etwa allein dem Bereich der (körperlich-sinnlichen) Erfahrung zugerechnet werden soll. Vielmehr haben die bisherigen Forschungsarbeiten des Kollegs zur Wissenspoetik des Traums deutlich gemacht, dass das Traumwissen vor allem dort produktiv und anschlussfähig für zahlreiche weitere Forschungsfragen ist, wo künstlerische Traumdarstellungen bestimmte Formen von Erfahrungswissen artikulieren, vorführen, hervorbringen, aber auch unterlaufen oder in Frage stellen. Dies gilt beispielsweise für die traumatische Dimension des alptraumhaften Träumens, die Wahrnehmung von traumartiger Zeitlichkeit und Räumlichkeit oder bestimmte, unter anderem auch geschlechtlich oder ethnisch markierte Körpererfahrungen (Ates 2018a, Barboza 2016, Reinstädler 2018, Solte-Gresser 2019a und 2018c, Stahl 2017 und 2016a).

 

Mittels ästhetisch inszenierten Traumerlebens werden daher ganz unterschiedliche Zugangsformen zum Wissen miteinander in Dialog gebracht. Dabei potenzieren Literatur und andere Künste die immer¬siven und reflexiven Eigenschaften des Traums ganz im Sinne eines Ette’schen Konzepts von Literatur und Kunst als Speicher für Lebens- bzw. Erfahrungswissen. Der Traum bearbeitet etwas, was in der Wachwelt nicht bewusst zugänglich ist (Hartmann 2001), er kann Alternativen vorführen, Problemlösungsstrategien bieten (Schredl 2008b) und ein „kreatives Durchspielen von Möglichkeiten“ darstellen (Schredl 2014, 15). Im Zusammenhang mit Trauma wäre der Traum zudem eine Möglichkeit, Vergessenes, Marginalisiertes oder dem Träumer in der Wachwelt nicht zugängliches Wissen zu speichern, zu vermitteln und in das kollektive Gedächtnis einzuschreiben (Bayer 2014, Caruth 1996, LaCapra 2014, A. Müller 2017, Calvo/Nadal 2014). Damit werden Traumerzählungen und Traumbilder in ihrer ästhetischen Dimension nicht zuletzt auch wiederum für das wissenschaftliche Traumwissen relevant (Langer 1991, Laub 2000, Young 1988).

 

In der Bearbeitung dieser Themenfelder wird es also künftig darum gehen, das Phänomen der (Traum )Erfahrung auf dem ebenso weitläufigen wie theoretisch bereits klar umrissenen Feld der Wissenspoetik zu situieren und auf dieser Grundlage das ästhetische Potenzial eines Traum-Erfahrungs-Wissens auszuloten. Hierfür schlagen wir folgende Strukturierung vor: Aus einer wissenspoetischen Perspektive lässt sich das Verhältnis von Wissen und Literatur bekanntermaßen in die Bereiche Wissen in der Literatur, literarische Strukturen des Wissens und ein literarisches Wissen der Literatur unterteilen (Klausnitzer 2008, ähnlich auch Borgards/Wübben/Pethes 2013). In Analogie hierzu unterscheiden wir im Modell der Erfahrungspoetik zwischen a) Erfahrung in ästhetischen Traumartefakten, b) ästhetischer Gestaltung von Traum-Erfahrung und c) Erfahrung der Traum-Ästhetik.

 

Damit ergeben sich wiederum vier neue Forschungsbereiche (Grafik B1–B4), aus denen sich die weiteren Schwerpunkte der wissenschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb der zweiten Förderphase heraus-kristallisieren lassen. Festzuhalten ist bereits vorab, dass sämtliche Teilbereiche miteinander zusammenhängen, d.h. auseinander hervorgehen, sich überschneiden bzw. untereinander Synergien erzeugen können. Dies gilt freilich auch für die Beziehungen zwischen den Desideraten (A1–A4) und den neuen Schwerpunkten (B1–B4). Mehr noch: Eine möglichst enge Verzahnung der Felder untereinander, gerade auch innerhalb einzelner Projekte, wie sie im Bereich C dargelegt sind (C1–10), wird im Sinne einer möglichst weitgehenden Kohärenz des Forschungsprogramms und mit dem Ziel einer gemeinsam zu erarbeitenden Forschungssynthese ausdrücklich angestrebt. Denn auf diese Weise sind sämtliche Einzelprojekte in ein größeres Netz übergreifender Fragestellungen, sich überschneidender Themenfelder und theoretischer und methodischer Ansätze eingebunden.

 

B1 Traumerleben als körperliche, sinnliche und affektive Erfahrung

 

B2 Traum und Gender

 

B3 Traum und Trauma

 

B4 Europäische Traumkulturen und die Grenzen Europas: Traum und Erfahrungspoetik in inter-/transkultureller bzw. postkolonialer Dimension

 

 

Aktuelle Forschungsbibliographie

 

 

Verortung der Mitglieder des Graduiertenkollegs »Europäische Traumkulturen« im Forschungsprogramm der 2. Förderphase